Artikel

Herausforderungen in der Langzeitpflege: Lessons Learned aus der Corona-Pandemie

veröffentlicht am 09.01.2023
 

Auf Anregung einiger Mitglieder der Swiss National Covid-19 Science Task Force hat im vergangenen Jahr ein nationales Expert*innenkomitee aus 40 Fachpersonen die aktuellen Herausforderungen für die stationäre Langzeitpflege in der Schweiz diskutiert.

Die Mehrheit der erkannten Herausforderungen sind nicht pandemiespezifisch, sondern struktureller Art und den in die Langzeitpflege Involvierten seit Jahren bekannt.  Neben ethischen Fragestellungen geht es um Probleme der ärztlichen und pflegerischen Betreuung in Langzeitpflegeinstitutionen. Das Expert*innenkomitee hat eine Grobanalyse der Herausforderungen vorgenommen, Handlungsfelder definiert und Empfehlungen formuliert.

Diese Empfehlungen entsprechen nicht einer intern abgestimmten Meinungsäusserung der SBGE. Da aber die beschriebenen Handlungsfelder resp. die Mehrheit der Empfehlungen von ethischer Relevanz sind, unterstützt die SGBE mit der Publikation auf der SGBE-Homepage die Bekanntmachung und Diskussion der Erkenntnisse und Überlegungen des Expert*innenkomitees.
 

Kontaktpersonen für Anfragen in Zusammenhang mit diesen Empfehlungen sind: 

Für Fragen im Kontext der Heime: Gaby Bieri

Für Fragen im Kontext der Pflege: Franziska Zúñiga

Für Fragen im Kontext der ärztlichen Betreuung: Klaus Bally

Für Anfragen in französischer Sprache: Pia Coppex
 

Empfehlungen herunterladen

Solidarität und Verantwortung in der Pandemie

Veröffentlicht am 03.02.2021

Appell herunterladen (PDF)

Das Wichtigste in Kürze:
Der Ruf aus den Spitälern ist unmissverständlich: Es wird zunehmend schwierig, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Die Spitäler alleine können dieses Problem nicht lösen, es braucht alle – Bevölkerung, Behörden und Institutionen. Mit klaren Worten fordern die Medizinethikerinnen und -ethiker:

1) Sofort wirksame Massnahmen um die medizinische Versorgung aller sicherzustellen,
dies unter Wahrung von Schutz der Persönlichkeit und der Lebensqualität.

2) Nicht zu moralisieren und von einer Einteilung in «gute Geimpfte» und «schlechte Ungeimpfte» wegzukommen. Angezeigt ist das Engagement für eine moralische Impfpflicht.

3) Respekt und Wertschätzung gegenüber den im Gesundheitswesen Tätigen.

4) Gemeinsam die Welle zu brechen, denn die Notwendigkeit der Triage ist kein unausweichliches Schicksal.

Solidarität und Verantwortung in der Pandemie

(Weihnachts-)Appell der Medizinethikerinnen und Medizinethiker

Unter dem gleichen Titel haben Verantwortliche der klinischen Ethik bereits Anfang Jahr einen Appell veröffentlicht*. Erneut ist ein solcher nötig. Mit hoher Dringlichkeit stellt sich angesichts der Ressourcenknappheit in der Medizin die Notwendigkeit nach wirksamen Massnahmen und damit nach gelebter Solidarität und Verantwortung durch Bürgerinnen und Bürger, Behörden und Institutionen.

Die Pandemie dauert ungebrochen an und wir sind erneut in einer sehr kritischen Phase. Es wird zunehmend schwierig, die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Es droht eine Unterversorgung, weil nicht alle Erkrankten in Spitalpflege aufgenommen werden können und immer mehr Behandlungen und Operationen verschoben werden. Die Gesundheitsfachper-sonen sind physisch und psychisch erschöpft, und immer mehr verlassen den Beruf, was die Situation zusätzlich verschärft.

Durch die hohen Ansteckungsraten erkranken auch geimpfte, medizinisch vulnerable Personen, wieder schwer an Covid. Die neue Virusvariante kann darüber hinaus zu einem plötzlichen und starken Wiederanstieg der Fallzahlen und Spitaleinweisungen führen. Im Extremfall muss zur Triage gegriffen werden. Dafür liegen medizin-ethische Richtlinien bereit. Diese stellen sicher, dass bei extremer Ressourcenknappheit transparent und fair entschieden wird, welche schwer-kranken Personen die überlebensnotwendige Intensivtherapie nicht bekommen. Doch die Notwendigkeit der Triage ist kein unausweichliches Schicksal. Es gibt wirksame Wege, die weitere Verbreitung des Virus zu bremsen, schwere Verläufe und eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden.

Die unterzeichnenden Ethikerinnen und Ethiker sind mit Blick auf die kommenden Tage und Wochen in grosser Sorge und rufen die Verantwortlichen auf der Ebene von Bund, Kantonen, Gemeinden und Leistungserbringern auf, rasch wirksame Massnahmen zu ergreifen, welche die medizinische Versorgung sicherstellen und verletzliche Personengruppen schützen. Der Appell ruft zudem alle Bürgerinnen und Bürger auf, die Massnahmen ernst zu nehmen und umzusetzen.

1) Wir rufen Behörden und Institutionen auf, Ihre Verantwortung wahrzunehmen. Das Gesundheitswesen fängt in jeder neuen Welle die Folgen auf, kann aber keine Welle brechen. Dazu braucht es behördliche Massnahmen. Ein zu langes Zögern hat fatale Folgen. Behörden und Institutionen stehen in der Pflicht, ihre Verantwortung wahrzunehmen, um diese lang andauernde Krise zu bewältigen, die für die Gesundheitsfachpersonen und für kritisch kranke Menschen und ihre Angehörigen äusserst herausfordernd und für die ganze Bevölkerung sehr belastend ist.

Die Massnahmen sind so zu treffen, dass die medizinische Versorgung aller, die es benötigen, sichergestellt ist. Notwendig sind neben strengen Massnahmen zur Vermeidung von Ansteckungen eine rasche Klärung der Finanzierung von Pandemie-spezifischen Interventionen und eine verbesserte Koordination der Leistungserbringer im Umgang mit den knappen Ressourcen. Dringend nötig sind Kriterien für die Verschiebung planbarer Eingriffe und Transparenz über deren Ausmass.

Diejenigen, die von der Pandemie am stärksten betroffen sind, dürfen nicht vergessen werden. Dazu gehören Kinder und Jugendliche, Personen mit psychischen Beeinträchtigun-gen, alleinstehende und in Alters- und Pflegeheimen lebende Seniorinnen und Senioren sowie Menschen in prekären sozialen Lagen. Bei der Umsetzung der Schutzmassnahmen ist darauf zu achten, dass sie mit dem Schutz der Persönlichkeit und der Lebensqualität einhergehen müssen. So sind etwa rigorose Besuchsverbote in Alters- und Pflegeheimen sowie Spitälern nicht angebracht.

Studien** zeigen, dass die ökonomisch Benachteiligtsten in unserer Gesellschaft ein höheres Risiko haben, sich zu infizieren, ins Spital eingewiesen zu werden und zu sterben. Angezeigt ist eine zielgruppenspezifische Kommunikation und Informationen in verständlicher Sprache, die jeden in unserer Gesellschaft erreichen.

2) Wir rufen alle Seiten dazu auf, nicht zu moralisieren. Für geimpfte Menschen ist es unverständlich und erscheint es paradox, dass ungeimpfte Covid-Kranke enorme Behandlungsressourcen brauchen und auf den Intensivstationen junge, zuvor gesunde Personen sterben, deren Tod durch die Impfung zu vermeiden gewesen wäre. Mit einer Einteilung in «gute Geimpfte» und «schlechte Ungeimpfte» lässt sich die Pandemie aber nicht überwinden. Im Gegenteil: Sie kann dazu führen, dass Geimpfte davon ausgehen, sie seien nicht mehr infektiös und sich und andere nicht mehr ausreichend schützen.

Es gibt physische, psychische und sprachliche Hindernisse, kulturelle oder religiöse Gründe und die Einbettung in ein impfkritisches Umfeld als Gründe dafür, warum ein Mensch nicht geimpft ist. Auch besteht – immer noch – das Recht auf informierte Zustimmung oder Ablehnung der Impfung nach individueller Abwägung. Es ist nicht Aufgabe der Medizin, (hypothetisches oder reales) «Selbstverschulden» zu beurteilen, wenn eine ungeimpfte Person erkrankt. Aus ethischer Sicht kann das Recht auf medizinische Behandlung nicht verspielt werden, auch nicht mit risikoreichem oder unsolidarischem Verhalten. Die grosse Zahl Ungeimpfter bleibt eine Herausforderung, der begegnet werden muss: Es gibt wirksame Möglichkeiten: Das Gespräch suchen und informieren, Aufklären, auch über bestehende Unsicherheiten zur Datenlage, und für die moralische Impflicht einstehen. Hier sind Behörden, Hausärztinnen und -ärzte und wir alle gefordert.

3) Wir rufen auf zu Respekt und Wertschätzung gegenüber den im Gesundheitswesen Tätigen: Alle haben ein Interesse daran, dass auch in Zukunft eine gute Gesundheitsver-sorgung gewährleistet ist. Eine gute Behandlung und Pflege kann man nicht kaufen, wenn man sie braucht. Im Zentrum stehen Fachpersonen, die die Kranken oder Verunfallten behandeln und betreuen. Wir rufen dazu auf, den im Gesundheitswesen Tätigen Respekt und Wertschätzung entgegen zu bringen und fordern die Bürgerinnen und Bürger auf, alles zu unternehmen, um die Pandemie einzudämmen und unnötige Hospitalisierungen zu vermeiden. Denn Menschen, deren Beruf es ist, für Kranke, Verunfallte oder Pflegebedürftige zu sorgen, müssen ihre Arbeit unter zumutbaren Bedingungen leisten können.

4) Wir sind überzeugt: Gemeinsam können wir die Welle brechen. Die Medizinethikerinnen und -ethiker stehen für eine moralische Impfpflicht und empfehlen mit Nachdruck allen Personen, für die die Impfung aktuell empfohlen wird, sich impfen zu lassen inkl. Booster. Darüber hinaus sind alle in der moralischen Pflicht, Kontakte zu reduzieren und Hygienemassnahmen einzuhalten.

Es braucht die Mithilfe aller Menschen: der (aktuell) Geimpften, der (aktuell) Ungeimpften und der Genesenen. Das Verhalten eines jeden Einzelnen, der/die sich an Empfehlungen und Massnahmen hält, verlangsamt die Pandemie und verhindert schwere und langwierige Erkrankungen und letztlich Todesfälle. Solange die Pandemie das Potential hat, das Gesundheitswesen so zu überlasten, stehen alle in der moralischen Pflicht, durch die Einhaltung der Massnahmen die Weiterverbreitung des Virus zu verhindern und Erkrankungen und Todesfälle zu vermeiden.

* Vgl. Solidarität und Verantwortung in der Pandemie (SÄZ, 3. Februar 2021).
** Vgl. Socioeconomic position and the COVID-19 care cascade from testing to mortality in Switzerland (Lancet Public Health Sept 2021).

Kontakt für Medienanfragen

Prof. Dr. med. Samia Hurst, Directrice de l’Institut Ethique, Histoire, Humanités, Université de Genève, Samia.Hurst@unige.ch, 022 379 46 01

Prof. Dr. med. Dipl. Soz. Tanja Krones, Leitung Klinische Ethik USZ, tanja.krones@usz.ch,
044 255 34 70 / 079 938 03 32

PD Dr. med. Dr. phil. Manuel Trachsel, Leiter Klinische Ethik, Universitätsspital Basel, manuel.trachsel@usb.ch, 061 328 44 84 /  079 810 00 14

Erstunterzeichner/innen

lic. theol., dipl. biol. Sibylle Ackermann, Leiterin Ressort Ethik der SAMW
Dr. sc. med. Manya Hendriks, Projektverantwortliche Ressort Ethik der SAMW
Prof. Dr med. Samia Hurst, Directrice de l’Institut Éthique, Histoire, Humanités, Université de Genève
Prof. Dr. med. Dipl. Soz. Tanja Krones, Leitung Klinische Ethik USZ
Dr. sc. med. Settimio Monteverde, Leitung Klinische Ethik USZ
Bianca Schaffert, MSN, Präsidentin Ethikkommission SBK-ASI, Vizepräsidentin Zentrale Ethikkommission der SAMW
PD Dr. med. Dr. phil. Manuel Trachsel, Leiter Klinische Ethik, Universitätsspital Basel
Tatjana Weidmann-Hügle, M.Sc., M.A., Leitung Klinische Ethik, Kantonsspital Baselland

Weitere Unterzeichner/innen

Dr. phil. Heidi Albisser Schleger, MSc, RN, Alltagsethik im Gesundheitswesen, Universität Basel
Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle, Institutsleiterin der Stiftung Dialog Ethik
PD Dr. med. Eva Bergsträsser, Leitung Pädiatrische Palliative Care, Universitäts-Kinderspital Zürich
Dr. med. Anna Cavigelli, Co-Leitung klinische Ethik Kinderspital Zürich
Dr Christine Clavien, Maître d'Enseignement et de Recherche, iEH2 - Institut Ethique Histoire Humanités, Université de Genève Faculté de Médecine
Dr. med. Seraina Dübendorfer, Oberärztin m.e.V. Anästhesie, Steuerungsgruppe der Ethikkommission Stadtspital Zürich
Daniel Ducraux, inf. MScN en santé mentale, membre de la Commission d’Éthique de l’ASI
lic. sc. rel. Nadja Eigenmann-Winter, MAE, Spitalseelsorgerin CPT
Dr. med. Markus Eichelberger, Allgemeine Innere Medizin, Mitglied Zentrale Ethikkommission SAMW
Prof. Dr. med. Bernice Elger, Direktorin Institut für Bio- und Medizinethik, Universität Basel
PD Dr Marta Fadda, Bioethics, Università della Svizzera italiana
Dr. med. Andreas Fischer, Co-Leiter Ethik-Forum, LUKS Luzern
Ana Gurau, Doctorante en Sciences biomédicales, mention Bioéthique, Faculté de médecine, Université de Genève
Dr. med. Oswald Hasselmann, LA Neuropädiatrie/Klinische Ethik, Ostschweizer Kinderspital, Mitglied der Zentrale Ethikkommission derSAMW, Vorstand SGBE
Dr. med. Antje Heise, Präsidentin Ärzteschaft SGI, Thun, Intensivmedizin
Kathrin Hillewerth MScN, Co- Leiterin Ethik Forum Spital Zollikerberg und Stiftung Diakoniewerk Neumünster und Schweizerische Pflegerinnenschule
Adrienne Hochuli, MTh, Institut für Sozialethik, Universität Luzern
Dr. sc. med. Martina Hodel, Konsiliarpsychiatrischer Dienst/Mitglied Ethik-Forum, Kantonsspital Luzern. 
Dr. med. Markus Hofer, MAS FHNW, CAS MedLaw UZH, CA Klinische Ethik, LA  Pneumologie, Leiter Kommission für klinische Ethik am KSW
Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff, Zollikon, Psychiatrie und Psychotherapie
Priska Huckele, Dipl. Logopädin, Leitung Ethikforum Spital Zofingen AG
Prof. Dr. Ralf J. Jox, Medizinethiker, Lausanne
Isabelle Karzig-Roduner, Expertin Notfallpflege, MScN, MAE, Klinische Ethik, USZ
Muriel Keller, Mitglied klinisches Ethikkomitee, USZ
dipl. theol. Hubert Kössler, Medizinethiker, Bern
Reto Lingenhag, Qualitätsmanager, Steuerungsgruppe der Ethikkommission Stadtspital Zürich
Dr. med. lic. theol. Diana Meier-Allmendinger, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik Schützen und Dialog Ethik
Andrea Moser, Pflegeexpertin Intensivpflege, Steuerungsgruppe der Ethikkommission Stadtspital Zürich
Ernst Näf, MScN, Pflegeexperte APN-CH
Monika Obrist, MSc, RN, Co-Geschäftsleiterin Advance Care Planning, ACP Swiss
Marlis Pfändler-Poletti, MAS SCO, Höfa II, Pflegeexpertin, Patientensicherheit, Ethik 
Prof. Dr. Rouven Porz, Medizinethiker, Bern
Dr. med. Hans Räz, MAS Ethische Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen, Chefarzt Institut für Nephrologie und Dialyse, Kantonsspital Baden
Dr. med. Regula Schmid, MAS Angewandte Ethik UZH, Leitende Ärztin Kinderneurologie. Mitglied Komm für klinische Ethik, Kantonsspital Winterthur
Dr. med. Hannah Vera Schmieg, M.A., Luzerner Kantonsspital
Dr. rer. medic. Ewald Schorro, Hochschuldozent, Mitglied Zentrale Ethikkommission der SAMW
Jan Schürmann, M.A., Abteilung Klinische Ethik, Universitätsspital Basel
Dr. med. Birgit Schwenk, Chefärztin und Departementsleitung, Departemen Akutgeriatrie
Dr. phil. Annina Seiler, Klinische Psychologin, Klinik für Radio-Onkologie, Kompetenzzentrum Palliative Care, Universitätsspital Zürich
Prof. Dr. med. Reto Stocker, Facharzt für Anästhesiologie & Intensivmedizin, Hirslanden, Zürich
Dr. Jürg Streuli, PhD, Institute of Biomedical Ethics and History of Medicine, University of Zurich
Dr. Jean-Daniel Strub, Ethiker, Institut Neumünster und Brauer & Strub, Medizin Ethik Politik
Patrick Witschi, Leiter Pflege, Soziales und Therapien, Vorsitz der Ethikkommission Stadtspital Zürich

Pandemie: Lebensschutz und Lebensqualität in der Langzeitpflege

Appell an die Verantwortungsträger aus Politik, Management, Pflege und Betreuung*

Veröffentlicht am 01.07.2020


Sibylle Ackermanna, Ruth Baumann Hölzleb, Nikola Biller Andornoc, Tanja Kronesd, Diana Meier-Allmendingere, Settimio Monteverdef, Susanne Rohrg, Bianca Schaffert-Witvlieth, Reto Stockeri, Tatjana Weidmann-Hüglej

Die Coronapandemie hat die hohe Verletzlichkeit von Menschen in Pflegeeinrichtungen gezeigt. Medizinethikerinnen und Medizinethiker anerkennen die grosse Verantwortung von Behörden und Institutionen im Anordnen und Umsetzen von Schutzmassnahmen für diese Menschen. Sie heben gleichzeitig hervor, dass bei ­ihrer Umsetzung der Schutz des Lebens mit dem Schutz der Persönlichkeit und der Lebensqualität einhergehen muss.

Die Isolation und ihre Folgen für ­besonders vulnerable Menschen

Am 27. Mai 2020 hat der Bundesrat beschlossen, die ­ausserordentliche Lage der Coronapandemie auf den 19. Juni 2020 zu beenden. Während für grosse Teile der Schweizer Bevölkerung die Massnahmen zu einer allmählichen Rückkehr in den Alltag führten, war das nicht für alle Menschen in unserem Land der Fall. Mit Blick auf das wichtige Ziel des Lebensschutzes wurden in vielen Institutionen über mehrere Monate Bewohnerinnen und Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen, aber auch von Heimen für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen (in denen auch Kinder und Jugendliche leben) sowie von Alterssiedlungen einschneidende Restriktionen des Rechts auf Selbstbestimmung und der Freiheit im selbstbewohnten Lebensraum auferlegt. Diese Einschränkung der Persönlichkeitsrechte führte bei vielen Betroffenen zum Verlust von Lebensqualität resp. des Gefühls leiblicher und seelischer Integrität, mitbedingt durch die lange Trennung von engen Angehörigen, von de­nen viele auch in der Rolle der gesetzlichen Ver­tre­tungsperson stehen. Für viele Bewohnerinnen und Bewohner, speziell für demenzbetroffene Menschen, hat sich gezeigt, dass die räumliche und soziale Isolation von der Kernfamilie bzw. wichtigen Bezugspersonen zu einem raschen kognitiven Abbau und körperlichem Zerfall führen – nicht selten mit Folgeerkrankungen, die bis zum Tod führen können. Verstärkt werden diese Phänomene durch Vorkehrungen des Infektionsschutzes (z.B. Gesichtsmasken, Zimmerisolation), die bei kognitiv beeinträchtigten Menschen zu Verwirrtheit und herausforderndem Verhalten führen können [1, 2].

Die Situation in der Schweiz und international

In der Schweiz vermochte die rigide Abschottung nicht zu verhindern, dass sich über die Hälfte der Todesfälle der Coronapandemie in Alters- und Pflegeheimen ereignete [3–5]. Die Gründe sind vielfältig. Dazu zählen die grundsätzlich erhöhte Infektionsgefahr für Menschen, die in grossen Haushalten zusammenleben, sowie zum Teil fehlende oder zu spät bereitgestellte Schutzausrüstung für das Pflegepersonal in Langzeiteinrichtungen [6–8]. Die teilweise zögerliche Ausstattung mit Schutzmaterial und die Erarbeitung von Schutzkonzepten betrafen auch ambulante Spitexdienste. Ist ein besonders schwerer Verlauf der COVID-19-Infektion zu erwarten, kann es für Bewohnerinnen und Bewohner sinnvoll sein, in der gewohnten Umgebung der Institution zu verbleiben, statt eine Verlegung ins Spital, insbesondere auf die Intensivstation, auf sich zu nehmen [9]. Viele Betroffene haben einen entsprechenden Willen im Voraus formuliert und durch eine gemeinsame vorausschauende Behandlungsplanung (ACP) in Form einer Patientenverfügung und/oder ärztlichen Notfallanordung festgehalten [10, 11]. Unabhängig davon bestanden über viele Wochen Vorgaben diverser kantonaler Gesundheitsbehörden an die Heime, die Spitalverlegung bei COVID-19-Verdacht an strengere Bedingungen zu knüpfen, als sie für die Restbevölkerung galten (Kriterium des zu erwartenden Nutzens der Spitalbehandlung, im Gegensatz zum Kriterium der Spitalbedürftigkeit der Person aufgrund ihres Zustands). Hier braucht es die Klärung, inwiefern durch die behördlichen Vorgaben an die Heime die Rechtsgleichheit verletzt wurde und eine Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Alters oder ihres Wohnorts vorliegt.

Schutz des Lebens, Schutz der Gesundheit und der Persönlichkeit

Pflegeheime, Organisationen der Langzeitpflege und Gesundheitsbehörden haben zu Beginn der neuen Bedrohung durch die Pandemie mit grosser Verantwortung und Umsicht reagiert und die Empfehlungen des Bundesrates bezüglich des Besuchsverbots in Pflegeheimen rasch umsetzen müssen. Das Gebot, das Leben zu schützen, gilt absolut im Sinne des Schutzes von Individuen vor staatlichen Tötungen, mit ganz wenigen Ausnahmen wie Poli­zeinotwehr oder Verteidigungskrieg. Nicht absolut hingegen gilt das Gebot, Individuen vor Gesundheitsgefährdungen zu schützen – weder in der ­Pandemie noch ausserhalb von ihr. Dieses Gebot ist eingebettet in den Schutz der Persönlichkeit respektive der Werte und Interessen der Person, welche dieses Leben lebt und es als ihr eigenes Leben erfährt.

Menschen in Langzeitinstitutionen leben in privat genutzten Räumlichkeiten. Das Recht auf Selbstbestimmung in der eigenen Privatsphäre muss ihnen auch in ausserordentlichen Lagen zugestanden werde­n, selbstredend unter Einhaltung empfohlener Schutzstandards und Beachtung bestehender Schutzkonzepte, deren Wirksamkeit und Verhältnis­mässigkeit kontinuierlich zu überprüfen sind. Sind diese Personen urteilsunfähig, muss der Zugang der gesetz­lichen Vertretungspersonen und Beistände jederzeit gewährleistet sein. Für die Menschlichkeit einer Gesellschaft ist es systemrelevant, wie sie mit Personen umgeht, die einer dauerhaften Pflege und Betreuung in den Einrichtungen der Langzeitpflege bedürfen. Die Stellungnahme der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin «Schutz der Persönlichkeit in Institutionen der Langzeitpflege» vom 8. Mai 2020 [12] fand dafür bereits deutliche Worte, löste erstaunlicherweise aber nur ein geringes Echo aus [13].

Zehn Postulate

Public-Health-Krisen wie eine Pandemie stellen die ­Gesellschaft vor grosse medizinische, ethische und rechtliche Herausforderungen. Sie machen Menschen, die bereits verletzlich sind, noch verletzlicher. Dazu zählen Menschen, die in Institutionen der Langzeitpflege leben oder zu Hause durch ambulante Dienste pflegerische Unterstützung und Betreuung erfahren. Sie bedürfen eines besonderen Schutzes.

Es ist die gemeinsame Verantwortung von politischen Kräften, Behörden, Pflegeheimleitungen, medizinischem Personal und anderen Mitarbeitenden, gemeinsam mit Bewohnerinnen, Bewohnern und Angehörigen sichere und menschenwürdige Umgebungen zu schaffen, damit auch in einer Pandemiesituation die Leben, die geschützt werden sollen, von den Betroffenen als lebenswert erfahren werden.

Als Medizinethikerinnen und Medizinethiker der Schweiz ersuchen wir die Leitungspersonen von Einrichtungen und Organisationen sowie die Gesundheitsbehörden, im Sinne von «Lessons to be learned» die folgenden zehn Postulate umzusetzen, auch mit Blick auf eine erneute Pandemiewelle:

1. Die verfassungsmässig garantierten Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen der Langzeitpflege müssen vollumfänglich gewährleistet sein unter Einhaltung der für die Bevölkerung empfohlenen Schutzstandards und unter Vorlage entsprechender Schutzkonzepte.

2. Engen Angehörigen und Bezugspersonen sowie gesetzlichen Vertretungspersonen und Beiständen ist der Zugang zu urteilsunfähigen Personen zu gewähren unter Beachtung der allgemein geltenden Schutzstandards.

3. Es sollen Mittel gesprochen werden für eine un­abhängige wissenschaftliche Untersuchung der Zusammenhänge, welche in der ersten Pandemiewelle die hohe Sterblichkeit an COVID-19 in den Alters- und Pflegeheimen der Schweiz erklären.

4. Es sind Massnahmen zu ergreifen, um in Pandemiesituationen das Vertrauen in die Behörden und in die Einrichtungen zu fördern. Dazu gehört der kontinuierliche Dialog mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, den Angehörigen und den gesetzlichen Vertretungspersonen.

5. Bei der Planung und Umsetzung von Massnahmen gilt es, auch strukturelle Probleme anzugehen, welche in Institutionen der Langzeitpflege zu einer Verschärfung der oben aufgeführten Phänomene beitragen können [14]. Dazu gehören:

a. ein schlechter Skills-Grade-Mix (d.h. nicht erfüllte Anforderungen an die Anzahl und die fachliche Qualifikation des Personals pro Schicht),

b. ein (chronischer) Personalmangel mit unterbesetzten Planstellen,

c. der Mangel an Schutzmaterial,

d. das Fehlen von Schutzkonzepten für Beistände, Besuchs- und Vertretungspersonen,

e. das Fehlen von Massnamen zur Früherkennung von Infizierten beim Personal und bei den Bewohnerinnen und Bewohnern,

f. das Fehlen von professionell umgesetzten Palliative-Care-Konzepten nach den Standards von palliative ch,

g. die kritische Überprüfung der Wohnsituation von Hochrisikopersonen in Grossinstitutionen und die Favorisierung kleinerer Wohneinheiten mit kleineren Behandlungsteams.

6. Kantonale Weisungen respektive Empfehlungen der Gesundheitsbehörden an die Institutionen sollen transparent sein und öffentlich publiziert werden. Die Hospitalisationskriterien für Bewohne­rinnen und Bewohner mit Verdacht auf COVID-19 sollen bekannt sein, den Willen der Betroffenen ­berücksichtigen und bei Triagesituationen den ­geltenden nationalen Standards folgen; darüber ­hinaus dürfen keine weiteren Hürden für die Population in Langzeitinstitutionen bestehen.

7. Strukturen, die zu einer aktiven Fehlerkultur nach innen und aussen beitragen (z.B. Critical Incident Reporting Systems (CIRS) und Whistleblowing-Prozesse intern und extern), sollen gestärkt werden.

8. Bewohnerinnen und Bewohner, enge Angehörige, Vertretungspersonen und Beistände sollen transparent und proaktiv über bestehende Infektionen, vorbeugende Massnahmen und die pflegerische Versorgungssituation informiert werden.

9. Im Hinblick auf eine erneute Pandemiewelle sollen Einrichtungen, Organisationen und Gesundheitsbehörden Massnahmen vorbereiten, um die folgenden Persönlichkeitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner auch unter Isolationsbedingungen zu gewährleisten:

a. Zugang von Vertretungspersonen, Beiständen und engen Bezugspersonen,

b. Zugang von notwendigen Fachpersonen (Aktivierung, Physio- und Ergotherapie, Podologie, Seelsorge etc.),

c. Recht auf Tageslicht, Bewegung, frische Luft und soziale Zuwendung,

d. Recht auf Mitbestimmung in Therapieentscheidungen,

e. Miteinbezug von Angehörigen und gesetzlichen Vertretungspersonen bei unabwendbaren freiheitsbeschränkenden Massnahmen unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen.

10. Forschung ist zu fördern, die mit geeigneten wissenschaftlichen Methoden das Erleben der Betroffenen, Angehörigen, Pflegefachpersonen, Betreuenden und Heimleitungen zum Gegenstand hat, damit deren Stimme im politischen Diskurs zum Umgang mit der Pandemie besser wahrgenommen und in einer ähnlichen Situation stärker vertreten sein wird.

* Dieser Appell wurde von über 100 Personen aus der ganzen Schweiz unterzeichnet. Die Liste der Unterzeichnenden finden Sie online unter: https://t1p.de/appell-langzeitpflege.
Der Appell ist auch auf Italienisch verfügbar.

Danksagung

Die Unterzeichnenden bedanken sich bei Dr. med. Roland Kunz, ärzt­licher Leiter Zentrum für Palliative Care am Stadtspital Waid Zürich, und Prof. Dr. iur. Bernhard Rütsche, Ordinarius für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern, für wertvolle An­regungen und Ergänzungen.

Korrespondenzadresse

Settimio Monteverde, PhD
Universität Zürich
Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte
Winterthurerstrasse 30
CH-8006 Zürich
Tel. 044 634 40 81
settimio.monteverde[at]uzh.ch

Literatur

 1 Schlögl M, Jones C. Maintaining Our Humanity Through the Mask: Mindful Communication During COVID-19. J Am Geriatr Soc. 2020;68:E12–E13. doi:10.1111/jgs.16488

 2 Röhr S, Müller F, Jung F, et al. Psychosoziale Folgen von Qua­rantäne­massnahmen bei schwerwiegenden Coronavirus-Aus­brüchen: ein Rapid Review. Psychiatr Prax. 2020;47(4):179–89. doi: 10.1055/a-1159-5562

 3 Mehr als die Hälfte starb in Alters- und Pflegeheimen. Der Bund vom 18.5.2020; https://interaktiv.derbund.ch/2020/corona-tote-mehrheitlich-aus-altersheimen. Abruf 5.6.2020.

 4 Half of Coronavirus Deaths Happen In Care Homes. Data From EU Suggests. The Guardian vom 13.4.2020; www.theguardian.com/world/2020/apr/13/half-of-coronavirus-deaths-happen-in-care-homes-data-from-eu-suggests. Abruf 5.6.2020.

 5 COVID-19: Sterblichkeit unter Pflegebedürftigen fünfzigmal höher. Deutsches Ärzteblatt vom 10.6.2020; www.aerzteblatt.de/nachrichten/113675/COVID-19-Sterblichkeit-unter-Pflegebeduerftigen-fuenfzigmal-hoeher. Abruf 14.6.2020.

 6 Barnett M, Grabowski D. Nursing homes are ground zero for Covid-19 pandemic. JAMA Health Forum. 2020; https://jamanetwork.com/channels/health-forum/fullarticle/2763666

 7 Comas-Herrera A, Zalakaín J, Litwin C, et al. Mortality associated with COVID19 outbreaks in care homes: early international evidence. LTCcovid.org, International Long-Term Care Policy Network, CPEC-LSE. 2020; https://ltccovid.org/wp-content/uploads/2020/05/Mortality-associated-with-COVID-21-May-7.pdf

 8 Etard JF. Potential lethal outbreak of coronavirus disease (COVID-­19) among the elderly in retirement homes and long-term facilities. Euro Surveill. 2020;25(15):2000448. doi:10.2807/1560-7917.ES.2020.25.15.2000448

 9 Fachgesellschaft Palliative Geriatrie. Covid-19-Pandemie: Aspekte der Palliative Care für alte und gebrechliche Menschen zu Hause und im Alters- und Pflegeheim, 2020; www.samw.ch/dam/jcr:e61aba64-f3a6-472c-96a0-46d98b07c926/empfehlungen_fgpg_palliative_care_20200322.pdf. Abruf 5.6.2020.

10 Brinkman-Stoppelenburg A, Rietjens JAC, van der Heide A. The effects of advance care planning on end-of-life care: a systematic review. Palliat Med. 2014;28(8):1000–25. doi:10.1177/0269216314526272

11 Vgl. zu Advance Care Planning in der Schweiz: www.pallnetz.ch/acp-nopa.htm. Abruf 5.6.2020.

12 Nationale Ethikkommission. Schutz der Persönlichkeit in Institutionen der Langzeitpflege. Ethische Erwägungen im Kontext der Corona-Pandemie. NEK-CNE 2020.

13 Lanoix M. Nursing homes in the time of Covid-19. 2020; https://impactethics.ca/2020/04/21/nursing-homes-in-the-time-of-covid-19. Abruf 5.6.2020.

14 Oliver D. Let’s not forget care homes when covid-19 is over.
BMJ. 2020;369:m1629.